Herzberg. Donnerstag morgen, kurz nach acht im Sozialamt des Landkreises. Einige Mitarbeiterinnen tauschen Akten und Papiere, wechseln freundlich ein paar Worte. Es ist
Sprechtag, gleich geht es in die Vollen. Ich schildere kurz, dass die Herzberger Flüchtlingshilfe für einen Asylbewerber eine kleine Wohnung sucht. Für einen Mann, der ständig mit anpackt, der
Menschen hilft, berät und begleitet. „Ach, für Abbas!“. Die Bearbeiterin weiß sofort, um wen es geht.
Donnerstagnachmittag. Bei den Tafeln in der Lugstraße herrscht ein buntes Treiben. Lang aufgereiht sitzen Menschen zwischen Einkaufstaschen und Beuteln. Geplaudert wird hier in allerlei Sprachen.
Einer macht Späße, einige lachen, manche sagen nichts. Vor der Tür steht ein Fahrrad mit Anhänger. Es gehört zu Abbas, der mit zwei Frauen plaudert. Er transportiert die Einkäufe zum
Flüchtlingsheim in der Falkenberger Straße. Dort befindet sich seit sechs Monaten sein Lebensmittelpunkt. Untergebracht ist er in einem Dreibettzimmer steht, das von allen nur „Abbas‘ Office“,
Abbas Büro, genannt wird. Es ist ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt im Heim. Gibt es ein Problem, klopfen die meisten zuerst an die Tür von Abbas. Er spricht viele Sprachen, weiß Rat, hilft und
packt mit an.
Während wir in seinem „Büro“ reden, werden wir acht oder neun Mal unterbrochen. Abbas lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, Sanftheit ruht in den dunklen Augen des 44-Jährigen. Seine Geschichte
beginnt irgendwo im Libanon. Er gehört zu einer Generation von Exil-Palästinensern, die ihre Heimat nie gesehen hat. „Zuhause ist ein großer Luxus, den es für meine Familie nie gab. Wir waren
ständig unterwegs. Lebten in Flüchtlingslagern, an verschiedensten Orten, sogar in einer katholischen Kirche. Genau genommen überall, wo es Schutzgab, wo wir bleiben durften, wenn auch nur für
kurze Zeit.“ Abbas lächelt. Die Situation für Flüchtlinge ist im Libanon bis heute schwierig. Ein kleines Land mit begrenzten Ressourcen und nur fünf Millionen Einwohnern wird jahrzehntelang von
hunderttausenden Flüchtlingen überrannt. Staaten im Staat entstehen.Berufsverbote für Zuwanderer und diskriminierende Gesetze zeigen die Hilflosigkeit der libanesischen Regierung. „In meinen
letzten Schuljahren sind wir zehn Mal umgezogen. Trotzdem bekam ich eine unglaubliche Chance. Ich durfte in der Sowjetunion studieren“, erzählt er stolz. So strandet der freundliche Palästinenser
am Schwarzen Meer in Odessa. Studiert Hafenlogistik und liest in jeder freien Minute russische Klassiker. Tschechow und Tolstoi kehrt er nach Studienende den Rücken zu. Er will arbeiten, träumt
von einem Leben in der Mittelmeermetropole Haifa.
Daraus wird nichts. Als Palästinenser ist er in Israel nicht willkommen, im Libanon darf er seinen Beruf nicht ausüben. So beginnt er für UNICEF zu arbeiten. Das Helfen wird 14 Jahre lang seine
Profession. „Gib das Lächeln, das du als Kind vermisst hast, weiter an andere“, sagt er und ein Strahlen legt sich auf sein Gesicht. Bei diesem Anblick vergisst man fast all das Elend, das diese
Augen schon gesehen haben. Denn seit 2011 ist die Situation im Libanon schlimmer geworden. Der Krieg in Syrien betrifft längst alle Nachbarstaaten. „Du gehst eine Straße entlang, gegenüber ist
ein Supermarkt. Mit einem Mal knallt es und Betonteile fliegen durch die Luft. Es reißt dich zu Boden, du bestehst nur noch aus Angst. Dort zu leben, heißt, mit dem Tod zu leben“, sagt Abbas
leise. „Helfen ist das Mindeste, was du tun kannst“, fügt er an. Er sei dort zu Haus, wo andere ihn brauchen. Er erinnert sich gut an das letzte Gespräch mit seiner Mutter: „Geh fort von hier“,
beschwor sie ihn eindringlich. „Wir wollen dich nicht auch noch verlieren“, waren ihre Worte. Wenige Tage zuvor waren die Kinder seiner Schwester und deren Ehemann bei einem Bombenangriff ums
Leben gekommen.
Stephanie Kammer
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