Jetzt hilft nur noch "Een Helles un’n Hartn"

Was Galgenhumor, Melkfett, Hamsterei und Pinkel-Linden mit der aktuellen Lage zu tun haben

Dank der Pinkel-Linden und einem Schlückchen ist das Lächeln wieder da.
Dank der Pinkel-Linden und einem Schlückchen ist das Lächeln wieder da.

Heute Morgen beim Haus- und Hofbäcker nebenan. Der Chef steht am Verkaufstisch. Er klopft einen Spruch nach dem anderen, lacht und verkauft Brot und Brötchen. Nach jedem Geldkontakt desinfiziert er sich seine Hände. Und weiter geht’s. Wenn er das hundertfünfzig Mal am Tag gemacht hat, braucht er heute Abend Melkfett oder irgendetwas anderes Hochprozentiges für seine Haut. In seiner Stimme Galgenhumor und Aufgeregtheit. Ich denke, so wund, wie seine Hände nach dieser Woche sein werden, ist zurzeit unser aller Innerstes.

 

Am Frühstückstisch zeigt mir meine zehnjährige Tochter ein Tictoc-Video von ihrer Schulkameradin. Durch das Handy meiner Kleinen sieht mich ein grell geschminkter Baby-Zombi an. Mutmaßlich die schüchterne Jana, sie war schon bei uns zum Kindergeburtstag. Sie singt „It´s Corona time“ und filmt abwechselnd sich selbst in wackliger Großaufnahme und die Küche ihrer Familie: dort meterhoch gestapelt Küchenrollen, Tee, Toast, Nudeln, Fertiggerichte, Süßes. Ich sehe meinem Mann in die Augen und wir denken jetzt das Gleiche.

Im Laden dann die erste telefonische Bestellung des Tages von meiner alten geschätzten Lehrerin und Babysitterin meiner Großen, Ingrid Hille. Frau Hille erzählt, Sie braucht Lesestoff. Dann sage ich, sie kann mich gern anrufen, wenn sie dieser Tage mal Hilfe braucht. Und schon kommen wir auf d a s Thema. Plötzlich berichtet sie: „Meine Großmutter ist 1918 hoch schwanger, im neunten Monat an der spanischen Grippe gestorben. Da war meine Mutter erst vier und schon Halbwaise.“ Wir hatten schon unzählige Male über ihre Familiengeschichte gesprochen. Das hatte Frau Hille bisher nicht erzählt.

 

Zurück an den Schreibtisch. Für das Geschichtsbuch über Osteroda, an dem ich gerade mit vielen fleißigen Geistern aus dem rührigen Dorf arbeite, blättere ich in einem Buch von Hans-Dieter Lehmann, in seiner Presseschau III - Was Großvater einst in der Zeitung las. Worüber stolpere ich? Das Schweinitzer Kreisblatt berichtet aus dem November 1916: „Im November 1916 fingen die Bauern an, Salz zu hamstern. Sie kauften es in Herzberger Geschäften zentnerweise ein aus Angst, es könnte alle werden. Die Petroleumhamsterei nahm manchmal Formen an, dass die Geschäftsinhaber sich bewogen sahen, ihre Geschäfte zu schließen.“ Ein paar Seiten danach November 1918. Eine Meldung aus Kirchhain. „Die Grippe breitet sich immer mehr aus. Die Zahl der Erkrankten nimmt täglich zu.“ Über 400 kranke Kinder, fast die gleiche Anzahl kranker Erwachsener und der letzte Satz: „Die Zahl der Todesfälle steigt von Woche zu Woche“. Jetzt habe ich endgültig genug und beschließe morgen an dem Buch weiterzuarbeiten.   

Inzwischen ist es gerade mal zehn und ich denke, jetzt wäre es Zeit für „een Helles un`n Hartn“. Es klappert, die alte Sackkarre und mein Co-Pilot Christian Poser beim Frühsport? Quatsch, die Post hat gerade unser neuestes Buch geliefert. Der Titel: „Een Helles un`n Hartn“. Obwohl ich nie Schnaps trinke, genehmige ich mir nun einen. Dazu das schöne neue Buch. Ich brauche Ablenkung. Die Dorfschänken in unserer Gegend im Porträt von Dr. Gert Wille, ein Schänkenkind. Ich lese das Kapitel über die Pinkel-Linden vor dem Gasthof in Proßmarke. Wie ein völlig betrunkener Gast an ihnen einen letzten Halt sucht, weil es ihm hochkommt. Sein Gebiss fliegt in hohem Bogen in die herausgebrachte Säufersuppe. Die Säufersuppe wabbert auf dem uringetränkten Erdreich. Nach akrobatischen Leibesübungen rettet er schließlich sein Gebiss, wischt es an Hose und Hemd ab, bringt es glücksselig mit ungelenken Kaubewegungen wieder in die richtige Position und schwankt von dannen. „Manches muss man eben schlucken“, denke ich und leere mein Gläschen Eierlikör. Meine Unerschrockenheit und ein Fünkchen Kampfgeist sind zurück. Dank der Pinkel-Linden und einem Lächeln, das zurück in mein Gesicht gefunden hat.        

Bleibt allesamt behütet!    

Stephanie