Osteroda-Redlin feiert 740 Jahre mit einem Buch, das mehr als reine Geschichte nachzeichnet
Das Redaktionsteam aus Osteroda-Redlin freut sich, den Einwohnern das "Dorffest in Buchform" überreichen zu dürfen. Ein Dorffest im gewohnten Rahmen wird es aufgrund der Corona-Einschränkungen nicht geben, sondern ein fröhliches Zusammensein mit Buchpräsentation.
Osteroda. Zwischen Idee und Umsetzung lagen nur neun Monate. Am 31. Oktober pflanzten etwa fünfzig Osterodaer einen Baum als Erinnerungsort für Gerd von Tresckow. Der einstige Gutsherr zählte bekanntlich zum Kreis der Hitler-Widerständler des 20. Juli 1944. Die Freude über die Resonanz, die die Baumpflanzaktion gefunden hatte, ließ plötzlich einen Gedanken aufblitzen: Osteroda-Redlin hat so viel Geschichte, warum erobern wir sie nicht zurück aus der Welt des Vergessens. Es entstand das Buch „Osteroda-Redlin – Geschichte auf der Spur“, das auf 200 Seiten und mit mehr als 350 Abbildungen die wechselvolle Lebenserzählung zweier Gemeinden festhält.
Dorfschänker Siegfried Laurig a.D. blättert mit den Zwillingsmädchen Ida und Hanna Lange im neuen Buch
Während sich viele Menschen in den zurückliegenden Monaten der Corona-Zeit auf das Notwendige konzentrierten, trieben die Geschichtsfreunde von Osteroda-Redlin, unter ihnen Simone Müller, Diana Golz, Ingrid Morawitz, Dirk Laurig, Ortsvorsteher Matthias Hensel und Thomas Barth sowie Fred Wepner, ein aufwändiges Buchprojekt voran. „Wir wussten zeitweise nicht, ob wir alles realisiert bekommen“, gibt Matthias Hensel unumwunden zu. „Die Recherchen waren schwierig. Inhalte oft widersprüchlich. Hinzu kam noch die normale Arbeitsbelastung und das Pensum an Familienpflichten“ erinnert sich Matthias Hensel noch genau. „Eigentlich hätte ein jeder von uns gut und gerne auf solch ein Mammutprojekt verzichten können. Denn die meisten im Team sind bereits so aktiv, dass sie völlig ausgelastet sind“, spricht er offen aus, dass es auch ein paar Durststrecken im Projektverlauf gegeben hat. Dennoch blieb er zusammen mit seinen MitstreiterInnnen eisern bei der Sache. Sie bissen sich durch. „In der Tat gab es haarige Momente, in denen auch ich gern mal alles hingeworfen hätte“, sagt Simone Müller, die viele Fleißarbeiten und Schreibaufträge dem Projekt beisteuerte. Wenn sie in den zurückliegenden Monaten nicht die Geschichte der gut 90 Höfe beackerte und Informationen über Gastwirtschaft, Kindergarten, Schule und LPG ausgrub, bediente sie bei Kaufland täglich hunderte Kunden unter Corona erschwerten Bedingungen. Ähnlich ging es auch den anderen, allesamt berufstätigen Projektkollegen.
Ihr Fleiß wurde belohnt. Die Einwohner zogen mit. Als die ersten Probeexemplare gedruckt waren, gewann das Buchprojekt an enormer Geschwindigkeit. „Wir durften in die Familienalben der Einwohner sehen. Bekamen Dokumente und Aufzeichnungen zur Bearbeitung überlassen“, sagt Stephanie Kammer, die redaktionell das Werden des Buches begleitete. „Glücksgriffe wie das Notizbuch des Bürgermeisters Paul Zwiebel oder die aufgeschriebenen Erinnerungen der Familie von Tresckow halfen dabei, insbesondere die schwierigen Kapitel wie den Nationalsozialismus aufzuarbeiten“, fügt sie hinzu.
Ergänzend wurden Zeitzeugengespräche geführt. Siegfried Laurig, Elfriede Giese sowie Elisabeth und Erhard Krengel gaben Auskunft und suchten nach Fotos, Briefen und anderen Quellen. „Wir setzten die persönlichen Erinnerungen und schriftliche Zeugnisse wir ein Mosaik zusammen. So wurde beispielsweise das Kriegsende sichtbar: Bombardierungen, ein Flugzeugabsturz, Fluchtpläne aus Angst vor der Roten Armee, Osterodas junge Mädchen, die sich eine Woche lang in einem verbarrikadierten Keller versteckten – sensible Themen, die vielerorts vernachlässigt werden, konnten wir gut nachzeichnen“, erläutert Stephanie Kammer die angegangenen Rechercheansätze, die vor kritischen und selbstkritischen Fragestellungen nicht Halt machten. Das trifft auch auf einen abgedruckten Erfahrungsbericht zum Thema Vertreibung zu. Osteroda-Redlin nahm ab 1945 mehr als 80 Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten auf. Bei einer Einwohnerzahl von gut 250 war das ein Kraftakt. „Das Thema Flucht lag uns am Herzen. Edeltraud Sedello hatte ihre Erinnerungen aufgeschrieben. Das liest sich wie das Tagebuch der Anne Frank. Auch wenn diese Erzählung fast gar nicht in der Region spielt, gehört sie zu unserer gemeinschaftlichen Erinnerung, da viele hinzu gekommene Einwohner ähnlich schlimme Erfahrungen durchmachen mussten“, unterstreicht Matthias Hensel, das breite Erkenntnisinteresse der Schrift.
Beim Durchblättern der Osteroda-Redliner Spurensuche wird deutlich, dass es sich gelohnt hat, viele verschiedene Forschungsaspekte zu berücksichtigen. Echte Schlaglichter der Ortsgeschichte konnten so für die Nachwelt gesichert werden. Beim Durchstöbern des Buches eröffnet sich ein gut strukturiertes historisches Wimmelbild aus zig Einzelgemälden: darunter das tragische Duell des Hauptmannes von Panschmann im Jahr 1684, die Epidemien des 17. Und 18. Jahrhunderts, Vergewaltigungen im Nordischen Krieg, das schillernde Leben des Rittergutsbesitzers Emil Heß - amerikanischer Konsul und Weltenbummler - und ein für die Region einmaliger Kirchenabriss. Die bunten Farbtupfer liefert zwischendrin wohldosierte Alltagsgeschichte: Mäuseplagen, Beschimpfungen, Liebschaften, Mitternachtstreffen auf dem Friedhof, dem Teufel zugeschriebene Blitzschläge, bis auf das Nachthemd ausgeraubte Redliner, ein Ziegenbock im Gottesdienst, Hochstapelei, Gefängnisausbrüche und Lynchjustiz.
Wem das noch nicht genügt, dem verspricht die Buchpräsentation zum abgespeckten Dorffest am 15. August um 18 Uhr noch mehr Details aus der Gemeindebiografie. Im Festzelt auf dem Sportplatz feiert Osteroda-Redlin damit seinen 740. Geburtstag.