Russen, Wodkawächterin, das letzte Stündlein und unbändige Vorfreude

Vorab-Plauderei über mein neues Buch "Herzberg im Sozialismus"


Strammstehen in Reih und Glied - Fahnen-Appell in der Juri-Gagarin-Oberschule in Herzberg mit Soldaten der Sowjetarmee (Fotos: Gerhard Laurin)
Strammstehen in Reih und Glied - Fahnen-Appell in der Juri-Gagarin-Oberschule in Herzberg mit Soldaten der Sowjetarmee (Fotos: Gerhard Laurin)

Ich war zehn Jahre alt. Wie immer strolchte ich draußen herum. In abgetragenen Spielsachen, mit einem Stock bewaffnet und getarnt durch Schmutz auf den Wangen jagte ich mit den anderen Dorfkindern zur Schwarzen Elster. Denn dort passierte etwas. Eine Handvoll sowjetischer Soldaten kampierte dort, vielleicht war ein Manöver geplant. Rückten die schweren „Russenautos“, wie wir sie nannten, an, überkam mich immer ein inneres Frösteln. Ob die Geschichten über sie wahr waren, die sich die Erwachsenen heimlich erzählten?

 

Vergewaltigungen nach dem Krieg, Mausereien, Schiebergeschäfte – ich hatte immer die Ohren gespitzt, wenn solche Worte verschworen geflüstert, gehaucht und gezischelt worden sind. 

Verlässlich wusste ich, dass ein Rotarmist meinen Urgroßvater auf dem Gewissen hatte. Der alte Mann hatte in den Apriltragen 1945 Pech gehabt, als er seine Äcker beging und begutachtete. Eine sowjetische Kugel traf ihn. Er wurde in unserem Garten begraben, weil sich dieser Tage niemand auf den abgelegenen Friedhof meines Heimatortes Friedrichsluga traute. Über seinen Grabstein wachten inzwischen die Legehennen auf unserem Hühnerhof. Auf seiner Ruhestätte thronte eine stattliche Blautanne.

Ich fand den Gedanken schön, im eigenen Garten begraben zu sein und wünschte mir das auch irgendwann für mich. Später natürlich. Jetzt schoss ich als unbändiges Wildpferd über die Felder und durch Hecken, um die Russen auszuspionieren. 

Im rasenden Galopp ergriff mich ein starker Menschenarm. Mit einer schwungvollen Bewegung warf mich dieser muskulöse Tentakel durch die Luft. Ich landete bäuchlings auf der Schulter eines Uniformierten, der mich davontrug. Ich hörte nur noch das Beben meines eigenen Herzschlages. Ich erkannte die Russen-Uniform. In einer eisigen Winternacht hatte genauso ein Uniformierter an mein Kinderzimmerfenster gehämmert. Sein schwarzer Schatten, der von einem Käppi bekrönt war, verfolgte mich seither nachts. Er hatte gebrüllt: „Konsumfrau kommen!“. Gemeint war meine liebe Mama, die im Dorfkonsum arbeitete. Den Russen war sicher der Schnaps ausgegangen und irgendein Dorfbewohner hatte ihnen gesteckt, wo die Wodka-Wächterin wohnte. Ich hatte Angst. Angst. Angst! 




Wie immer, wenn mir die Kacke bis zum Halse stand, klammerte ich mich an den lieben Gott: „Wenn du mir noch einmal hilfst, will ich immer auf dich hören, jeden Abend beten und pausenlos Gutes tun“. Alles in meinem Kopf rauschte. Mein letztes Stündlein hatte geschlagen.

 

Der Russe griff nach meinem Leib und setzte ihn schwungvoll auf den Ast einer kleinwüchsigen Eiche. Ich blickte in ein weiches Kindsgesicht, das mich aus einem schwitzenden Muskelpaket anlächelte. Er nahm sein Käppi ab. Ich formte mit meinen Lippen ein letztes „Amen“. Der Typ grinste. Er zupfte aus seiner Kopfbedeckung Nadel und Faden. Brachte meinen Ärmel in Position und begann geschickt, einen dreieckigen Riss in meinem Anorak zu nähen. 

„Γотов. Fertig!“. Der junge Sowjetsoldat war sichtlich zufrieden und gab mir mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass ich wieder Wildpferd spielen gehen durfte. Ich trabte ungläubig wie in Zeitlupe davon. 

 

Diese Anekdote vermischt sich in meinem Kopf mit anderen typischen Ost-Erfahrungen. Noch immer spüre ich die Wärme des Vergangenen, des Unwiederbringlichen in mir, wenn sich ein Funken echter Geschichte in persönlichen Geschichten spiegelt. Ich bemerke an mir sogar eine Anfälligkeit für Nostalgie. Das liegt daran, dass das Land, in dem ich geboren wurde und aufwuchs, an sich selbst gestorben ist, als ich noch klein war.

35 Jahre nach dem Dahinscheiden meines Geburtslandes versuche ich mich an einem Porträt, das möglichst plastisch vierzig Lebensjahre der DDR am Beispiel Herzbergs abbilden soll. Ehrlich gesagt, ist das unmöglich. Bereits vor zehn Jahren hatte ich das Projekt angefangen und nach einer intensiven Recherchephase wieder beerdigt. Der Spagat zwischen Text- und Bildinhalten missglückte. Zu wenig Abbildungen in verwendbarer Qualität. Dazu Zeitzeugen, die zwar redebereit waren, deren Geschichten ich jedoch nicht schreiben durfte. Ich scheiterte zudem daran, die einzelnen Etappen vom Stalinismus, über Konsolidierung der DDR bis hin zum Zerfall des Sozialismus zu halbwegs gleichen Anteilen schlüssig und dicht nachzuzeichnen. 

 

 

Das Schwierigste betraf jedoch die Lebenswege der Menschen. Wie oft hatte ich es erlebt, dass eine objektive Kritik am System DDR als Infragestellen einzelner Biografien verstanden worden ist. In einer Kleinstadt, in der jeder jeden kennt, lauern da Fettnäpfchen so tief wie der Mariannengraben.

 

Das hat sich bis heute nicht grundlegend gewandelt. Verändert hatte sich jedoch für mich die Verfügbarkeit von Abbildungen. Mein Mann Ulf Lehmann sammelte unaufhörlich weiter. Wir kauften Nachlässe an. Darin enthalten Fotos, Dias, Dokumente. Dank zweier Glücksgriffe wendete sich das Blatt. Eine Fotosammlung aus der Herzberger Polizeidienststelle und einige Filmrollen aus dem Nachlass des Dorfschulmeisters Gerhard Laurin halfen, Abbildungslücken zu schließen. Qualitativ hochwertige Fotosammlungen von Horst Gutsche, Günter Schulze, vom Fotografen-Paar Nagel, Gerhard Tennstedt, Helmut Knuppe und Kurt Hartwich bildeten ohnehin schon ein ordentliches Fundament. Im Hintergrund wirkten Menschen wie Olaf Meier, Gerlinde Schulz und Familie, Anette Arndt vom Stadtarchiv sowie das Team vom Kreisarchiv wohlwollend und unterstützend. Der Sozialismus in Herzberg erhielt allmählich ein Gesicht, das der historischen Wirklichkeit zumindest ähnlich zu sein scheint.

Losungen wie diese waren fester Bestandteil von politischen Zusammenkünften und Propagandaveranstaltung in der DDR. Hier die Bühne im Kreiskulturhaus.
Losungen wie diese waren fester Bestandteil von politischen Zusammenkünften und Propagandaveranstaltung in der DDR. Hier die Bühne im Kreiskulturhaus.

Mein Ziel war es, einen Anfang zu machen, Markantes aus 40 Jahren DDR in Herzberg schlaglichtartig festzuhalten. Allen, die dabei geholfen haben, ich denke da an meinen Chef-Layouter und Co-Piloten Christian Poser und natürlich an meinen Mann Ulf Lehmann, sage ich herzlich Danke. Ohne diese helfenden Hände und wunderbaren mitdenkenden Köpfen wäre dieses Buchprojekt in der Planungsphase stecken geblieben und verkümmert. Meine größte Freude wäre es, wenn sich künftig mehr Menschen ein klein wenig mutiger mit dieser aussagekräftigen Zeit befassen würden. Lassen Sie sich anstecken? Ich bin gespannt. Am 25. Mai erscheint „Herzberg im Sozialismus“. 

Ich freue mich darauf wie ein unbändiges Wildpferd! 

Stephanie Kammer 

MEHR zur Präsentationsveranstaltung am 25. Juni 2024